
„KI wird die Arbeit im Credit-Bereich deutlich optimieren"
Herr Sieber, Herr Vogel, welche Methoden der Risikobewertung und -minimierung werden eingesetzt, um Zahlungsausfälle zu vermeiden?
Mark Sieber: Es gibt verschiedene Ansätze, um Zahlungsausfälle zu minimieren. Eine gute Basis bildet eine solide Kreditvergaberichtlinie in Unternehmen. Diese regelt detailliert, welche Daten über potenzielle und bestehende Abnehmer vorliegen müssen und wie diese im Unternehmen zu verarbeiten sind, um einen Kreditentscheidungsprozess zu gewährleisten. Hierzu zählen interne Informationen, wie historische Zahlungserfahrungen sowie extern verfügbare Informationen zum Beispiel von Wirtschaftsauskünften oder Ratingagenturen sowie Branchen und Länderanalysen. Zudem regelt die Kreditrichtlinie detailliert, wer im Unternehmen über die Vergabe von internen Limiten entscheiden darf, wie und unter welchen Konditionen der Fakturierungsprozess abläuft und wie Forderungen außergerichtlich und gerichtlich beizutreiben sind, wenn Abnehmer ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.
Über die internen Risikobewertungsprozesse und Richtlinien hinaus besteht für Unternehmen immer auch die Möglichkeit, die Außenstände mit Hilfe von externen Warenkreditversicherungen abzusichern. Hierbei bestehen verschiedenste Ansätze. Zum einen können ganze Portfolien abgesichert werden, was die am weitesten verbreitete Praxis darstellt. Es ist jedoch auch möglich, ausschließlich Ausschnitte oder Spitzenrisiken durch einen externen Versicherer covern zu lassen. Außerdem ist die Kombination von mehreren Anbietern möglich, um deren Limitzeichnungskapazitäten effektiv zu kombinieren.
Stefan Vogel: Neben den klassischen Modellen setzen Unternehmen zunehmend auch auf KI-gestützte Modelle. KI kann Daten aus verschiedenen Quellen nutzen, die intern über eigenes Kreditmanagement und Zahlungserfahrungen, wie auch extern über Markt- und Branchendaten verfügbar sind, um präzisere Einschätzungen zu liefern. Wichtig ist hierbei, dass KI-Modelle auf möglichst vollständige und qualitativ hochwertige Daten zugreifen. Die Kombination aus klassischem Credit-Management und den Möglichkeiten der KI bietet eine robuste Grundlage, um Zahlungsausfälle zu minimieren. Zudem kann insbesondere auch ein Forderungsverkauf mittels Factoring dazu beitragen Ausfallrisiken komplett zu eliminieren und zusätzlich noch Liquidität generieren.
Darüber hinaus kommen zunehmend auch Sentiment-Analysen aus Social Media oder Nachrichtenquellen zum Einsatz, die frühzeitig Hinweise auf finanzielle Schwierigkeiten eines Unternehmens liefern können. Makroökonomische Analysen wiederum helfen, Branchenrisiken sowie gesamtwirtschaftliche Entwicklungen systematisch in die Risikobewertung einzubeziehen. Eine gute Strategie zur Absicherung von Zahlungsausfällen kombiniert präventive Maßnahmen, technologiebasierte Risikobewertung und finanzielle Absicherungsinstrumente. Unternehmen, die KI-gestützte Analysen, dynamische Scoring-Modelle und alternative Finanzierungsformen einsetzen, können Zahlungsausfälle besser frühzeitig erkennen und gezielt verhindern.

– Stefan VogelUnternehmen, die KI-gestützte Analysen, dynamische Scoring-Modelle und alternative Finanzierungsformen einsetzen, können Zahlungsausfälle besser frühzeitig erkennen und gezielt verhindern.
Welche aktuellen Herausforderungen sehen Sie bei der Absicherung von Zahlungsausfällen, insbesondere in einem wirtschaftlich unsicheren Umfeld?
Stefan Vogel: Die größte Herausforderung liegt in der fehlenden Transparenz. Unternehmer müssen den Überblick über den gesamten Markt behalten, insbesondere über die Anbieter von Kredit- und Forderungsmanagementlösungen. Zudem sind die aktuellen Herausforderungen vielschichtig – Zunahme von Zahlungsausfällen, Steigende Zinsen und Finanzierungskosten, Geopolitische Unsicherheiten, branchenabhängige Risiken. All das benötigt eine gewisse Resilienz, um sich abzusichern – dazu gehört die Diversifikation von Kunden und Märkten, Optimierung des Forderungsmanagements, Einsatz von Absicherungs- und Finanzierungstools, sowie damit verbunden dem Aufbau eines finanziellen Puffers.
Mark Sieber: In einem derzeit wirtschaftlich sehr unsicheren Umfeld sehen wir seit längerem eine zunehmende Zahl von Insolvenzen. So gab es 2024 rund 21.000 Unternehmens-Insolvenzen in Deutschland, was einen Anstieg von mehr als 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr darstellt. Dies zeigt sehr deutlich, wie wichtig es für Unternehmen ist, ihre Risiken effizient zu überwachen und zu steuern.
Wir unterstützen unsere Kunden hier mit unserem eigenen Credit Management Tool, dem Ecclesia Trade Credit Manager (ETCM) und helfen dabei Prozesse im Credit Management weiter zu professionalisieren, die Kreditvergaberichtlinie zu optimieren, die internen Ratingtools zu digitalisieren sowie das Handling von bestehenden Warenkreditversicherungsverträgen zu automatisieren und damit Obliegenheitsverletzungen zu vermeiden. Der ETCM verbessert damit nicht nur die Transparenz und Effizienz im Kreditmanagementprozess, sondern unterstützt damit auch aktiv bei der Minimierung von bestehenden Abnehmer- und operationellen Risiken.
Welche spezifischen Vorteile bietet der Einsatz von KI für die Risikominimierung und welche Herausforderungen könnten dabei entstehen?
Mark Sieber: Der größte Vorteil von KI liegt in der Analyse großer Datenmengen. KI-Modelle können dabei sehr schnell Muster erkennen, die für Menschen nicht – oder nur mit hohem zeitlichem Aufwand – sichtbar sind, und frühzeitig auf potenzielle Zahlungsausfallrisiken hinweisen. Die große Herausforderung hierbei ist jedoch, die KI-Systeme fortlaufend zu pflegen und an sich verändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Hinzu kommt, dass ohne saubere und vollständige Datenbasis die Ergebnisse wenig verlässlich sind, was impliziert, dass KI-generierte Ergebnisse in jedem Fall mit Sachverstand zu hinterfragen sind.
Stefan Vogel: Ein weiterer Vorteil von KI liegt darin, Entscheidungsprozesse erheblich zu beschleunigen. Präzise Risikoeinschätzungen und die Möglichkeit, strategisch fundierter zu handeln, verbessern ebenfalls die Risikominimierung.
Zusätzlich zu der Herausforderung der Datenverfügbarkeit, besteht auch hier die Frage nach der Transparenz. Die Entscheidungen der KI-Modelle sind nicht immer nachvollziehbar, was die Akzeptanz erschwert – insbesondere bei Kreditentscheidungen, die regulatorischen Vorgaben unterliegen. KI bietet Unternehmen dennoch enorme Chancen zur Risikominimierung und Resilienzsteigerung, insbesondere durch frühzeitige Risikoerkennung, Automatisierung und präzisere Prognosen. Allerdings erfordert der erfolgreiche Einsatz eine gute Datenbasis, Transparenz und den verantwortungsvollen Umgang mit ethischen und rechtlichen Herausforderungen.
Wie schätzen Sie die Marktprognose für die kommenden Jahre ein und welche Branchen könnten besonders von KI profitieren?
Mark Sieber: Schon heute verwenden alle großen Warenkreditversicherer umfangreiche KI-Modelle, um stark ansteigende Zahlen von Kreditentscheidungen zu bewältigen sowie Entscheidungsgeschwindigkeiten zu erhöhen und treffen einen hohen Prozentsatz der Kreditlimitentscheidungen bereits voll automatisiert.
Auch bei Unternehmen wird KI zukünftig zunehmend in die Bonitätsprüfungsprozesse von Unternehmen Einzug halten und insbesondere in Branchen von Vorteil sein, die mit einer hohen Komplexität externer Einflüsse, einer großen Zahl an Debitoren und/oder Lieferanten konfrontiert sind. KI kann hier das Kreditmanagement effizienter gestalten, indem sie zum Beispiel auch Analysen in die Berechnung von Ausfallwahrscheinlichkeiten einfließen lässt, die nicht Inhalt eines klassischen Kreditprüfungsprozesses sind. Dazu zählen beispielsweise die Auswertung des Echtzeit-Einkaufsverhaltens, die Analyse abweichender Bestellmengen sowie die Beobachtung unterschiedlicher Bestellzyklen, die bislang im klassischen Kreditprüfungsprozess nicht berücksichtigt werden.
Stefan Vogel: Die generelle Marktprognose zeigt, dass KI in Bereichen, in denen große Datenmengen verarbeitet werden müssen, eine entscheidende Rolle spielen kann. Automobilzulieferer oder Unternehmen mit einer geringeren Zahl an großen Abnehmern haben hier tendenziell weniger Nutzen, weil die Komplexität und die Datenmenge geringer sind. In Branchen, die große Kundenportfolios und Lieferantennetzwerke haben, wird KI stärker zum Einsatz kommen.
KI verbessert die Vorhersage von Zahlungsausfällen erheblich, indem sie präzisere, datenbasierte Entscheidungen ermöglicht. Dies trägt dazu bei, operative Prozesse effizienter zu gestalten und strategische Entscheidungen auf eine solidere Basis zu stellen. Unternehmen können so flexibler auf wirtschaftliche Unsicherheiten reagieren und ihre langfristige Stabilität sichern.

– Mark SieberSchon heute verwenden alle großen Warenkreditversicherer umfangreiche KI-Modelle, um stark ansteigende Zahlen von Kreditentscheidungen zu bewältigen sowie Entscheidungsgeschwindigkeiten zu erhöhen und treffen einen hohen Prozentsatz der Kreditlimitentscheidungen bereits voll automatisiert.
Welche Auswirkungen haben aktuelle regulatorische Rahmenbedingungen auf Strategien zur Absicherung von Zahlungsausfällen und zur Risikominimierung? Welche spezifischen Vorschriften sind dabei besonders relevant?
Stefan Vogel: Aktuell gibt es wenig regulatorische Vorschriften zur Absicherung von Zahlungsausfällen – aber zur Bewertung unter IFRS 9. Es gibt jedoch Tendenzen, die Laufzeiten und maximalen Zahlungsziele zu regulieren, besonders bei Forderungskäufen und Überfälligkeiten. Kreditversicherer unterliegen Solvency-Vorgaben, aber Unternehmen müssen keine speziellen Anforderungen zur Absicherung erfüllen. Datenschutz wird eher bei der Nutzung von Massendaten relevant, wenn Unternehmen KI einsetzen oder Daten kaufen, wobei ein berechtigtes Interesse nachgewiesen werden muss.
Anders bei den Risikoträgern selbst – Banken, Finanzdienstleister, Versicherer, die bereits strengen Vorgaben unterliegen, etwa Basel III und IV, den EU-Richtlinien zur Bekämpfung von Zahlungsverzug, der DSGVO, dem EU-AI Act, ESG-Vorgaben sowie weiteren branchenspezifischen Vorschriften. Angesichts der zunehmenden regulatorischen Anforderungen müssen Unternehmen ihre Strategien zur Absicherung von Zahlungsausfällen gezielt anpassen. Dazu gehört ein optimiertes Forderungsmanagement mit frühzeitiger Identifikation von Risiko-Kunden und verstärktem Einsatz von Kreditversicherungen. Ebenso wichtig ist eine datenbasierte Risikoanalyse unter Nutzung von KI und Big Data, stets im Einklang mit regulatorischen Vorgaben. Die Einhaltung von Compliance-Anforderungen verlangt zudem, regulatorische Vorgaben konsequent in interne Prozesse zu integrieren, insbesondere bei der Kreditvergabe und im Datenschutz. Eine stärkere Liquiditätsplanung unter Berücksichtigung der IFRS 9-Vorgaben sowie eine resilientere Finanzstrategie sind ebenfalls unerlässlich. Schließlich sollten Unternehmen ESG-Kriterien zunehmend in ihre Kreditrisikobewertungen einbeziehen, um den Zugang zu Finanzierungen nachhaltig zu sichern.
Wie sehen Sie die Zukunft der Absicherung von Zahlungsausfällen, insbesondere im Hinblick auf den Einsatz von KI im Credit-Bereich, und welche Entwicklungen oder Innovationen erwarten Sie in den kommenden Jahren?
Mark Sieber: Kurzfristig wird KI keine Revolution im Kreditmanagement Prozess von Unternehmen auslösen, denn viele Unternehmen stecken bei der Nutzung von KI noch in den Kinderschuhen. Sicher wird sie jedoch schnell dazu beitragen, die Komplexität großer Datenmengen zu bewältigen und damit bestehende Prozesse effizienter und schneller machen. Zudem wird es durch eine selbst lernende, in den Entscheidungsprozess eingebundene, KI möglich sein, aus dem Zahlungsverhalten einer Vielzahl von Kunden und Transaktionen Muster abzuleiten, daraus zu lernen, Handlungsempfehlungen zu geben und damit zu unterstützen, Ausfallrisiken zu minimieren. Die Herausforderung wird in diesem Prozess darin liegen, die richtige Balance zwischen Automatisierung und menschlicher Kontrolle zu finden.
KI wird die Arbeit im Kreditrisikomanagement somit nicht vollständig ersetzen – aber sie deutlich beschleunigen und optimieren.
Stefan Vogel: Klar, KI wird Entscheidungen schneller und präziser machen, aber klassische Modelle der Kreditversicherung bleiben bestehen. Besonders relevant ist KI bei Buy Now, Pay Later (BNPL)-Modellen, wo Entscheidungen in Sekunden getroffen werden müssen. Wenn ein Kunde heute bei einem Online-Händler bestellt, entscheidet die KI innerhalb von drei Sekunden, ob ein Kreditlimit gewährt wird. Diese Geschwindigkeit wäre ohne KI kaum möglich. Die Herausforderung liegt darin, die richtige Balance zwischen Kundengewinnung und Risikominimierung zu finden. Die Kombination aus menschlichem Urteilsvermögen und KI-gestützten Analysen wird die Zukunft präge. Unternehmen, die diese Technologie richtig einsetzen, werden resilienter und wettbewerbsfähiger sein.