Organspende erst in der Klinik zu thematisieren, ist zu spät

Interview mit Dr. Ebru Yildiz, Direktorin des Westdeutschen Zentrums für Organtransplantation

Zum Tag der Organspende Anfang Juni war das Thema wieder omnipräsent: In Deutschland warten tausende Menschen auf ein Spenderorgan, viele vergeblich. Die Diskrepanz zwischen Spendewilligen und der Zahl der Empfängerinnen und Empfänger ist groß. Ebenso groß ist die Lücke zwischen denen, die Organspenden grundsätzlich gutheißen und denen, die tatsächlich einen Spenderausweis bei sich tragen. Darüber haben wir mit Dr. Ebru Yildiz gesprochen. Sie leitet das Westdeutsche Zentrum für Organtransplantationen an der Uniklinik in Essen.

 
Die Zahl der Organspender ist zurückgegangen. Auf eine Million Einwohner kamen 2022 noch 10,3 Spender (2021: 11,2). Dabei heißt es in Umfragen immer, 80 Prozent der Deutschen seien zur Spende bereit. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Dr. Ebru Yildiz: Das hat vielfältige Ursachen. Zunächst muss man sich die Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung dazu einmal genau ansehen. Es wurden 4.000 Personen befragt – bei einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen Menschen in Deutschland. Ob das so repräsentativ ist, lasse ich dahingestellt. Vor allem aber kommt es darauf an, in welcher Situation die Frage tatsächlich beantwortet wird. In den seltensten Fällen sind die Befragten doch gerade wirklich in einer Situation, in der sie sich ernsthaft Gedanken über das Thema machen. Ich habe selbst zweieinhalb Wochen gebraucht, um die Entscheidung über Organspende für meine Kinder zu treffen. 

Ein weiterer Punkt ist die Rolle der Angehörigen. Wenn man gemeinsam nie über das Thema Organspende gesprochen hat, neigen Hinterbliebene eher dazu, eine Organspende eines hirntoten Angehörigen zu verweigern. Sie wissen ja nicht, wie der Mensch zu Lebzeiten darüber gedacht hat. Auch kulturelle Unterschiede bildet so eine Umfrage meist nicht ausreichend ab. So kommt diese Diskrepanz zustande.

 

Welche Rolle spielt letztlich die Coronapandemie auch langfristig für dieses Thema?

Dr. Ebru Yildiz: Andere Themen haben viel stärkere Auswirkungen als die Pandemie. Beispielsweise ist die Frage eher, wie sehr der Fachkräftemangel in den Kliniken die Zahl der potenziellen Organspender beeinträchtigt. Dieses Problem betrifft nicht die Maximalversorger wie uns als Uniklinik, sondern die kleineren Kliniken, in denen Organspende nur selten ein Thema ist. Denn in diesen Krankenhäusern werden deutlich seltener Patientinnen und Patienten eingeliefert, die potentielle Organspender sein könnten. Es bräuchte einfach mehr Menschen, die sich mit dem Thema Organspende gut auskennen und entsprechend auch Angehörige beraten können. Denn die Expertise muss sich auch auf die Gesprächsführung mit den Angehörigen beziehen. Das sind sehr schwierige Gespräche mit Menschen in einer sehr schwierigen und traurigen Situation.

 
Wo liegen die Probleme genau?

Dr. Ebru Yildiz: Zunächst einmal darin, einen potenziellen Organspender oder eine potenzielle Organspenderin zu identifizieren und dann den notwendigen Prozess anzustoßen.

 
Was versprechen Sie sich in dieser Hinsicht von der kommenden Strukturreform im Krankenhauswesen, die der Gesundheitsminister Lauterbach vorantreiben will?

Dr. Ebru Yildiz: Die Reform könnte sich positiv auswirken, wenn in der Folge schwerstgeschädigte Patienten zentraler behandelt werden. 

 
Die Deutsche Stiftung Organtransplantation spricht davon, dass häufig die fehlende Einwilligung des potenziellen Spenders ein Grund dafür ist, dass eine Spende nicht durchgeführt wird. Was würde aus Ihrer Sicht helfen?

Dr. Ebru Yildiz: Letztlich sollte man erzwingen, dass die Menschen sich mit der Frage nach Organspende beschäftigen und für sich selbst eine Entscheidung treffen. Das führt dann vielleicht dazu, dass mehr Menschen den Organspenderausweis ausfüllen. Wir müssen also an der Aufklärung der Bevölkerung arbeiten.

 
Wie lässt sich da vorgehen?

Dr. Ebru Yildiz: Wir vom Westdeutschen Zentrum für Organtransplantation gehen in Schulen, halten Vorträge in Volkshochschulen, sind an der Uni in Duisburg mit Projekten vertreten. Es ist wichtig, das Thema Organspende weiter bekannt zu machen, bevor es in einer Klinik thematisiert wird. Dort ist es zu spät. Die Ansprache soll auch in und durch die Kommunen und die Hausärzte erfolgen. Doch das ist – ehrlich gesagt – weltfremd gedacht. Die Hausärzte erhalten dafür eine Vergütung, haben aber nur ein Zeitkontingent von sieben Minuten pro Patient. Das ist viel zu wenig. Es wird viel Geld eingesetzt, das aber keinen Effekt zeigt. Die Kommunikation über das Thema Organspende kann aktuell nur ehrenamtlich weiter in die Breite getragen werden.

 
Was können Ärztinnen, Ärzte und Kliniken zur Unterstützung leisten?

Dr. Ebru Yildiz: Eine Hilfe wäre es, wenn die ehrenamtliche Arbeit mehr Unterstützung erfährt und die Menschen ganz neutral über das Thema Organspende informiert würden, zum Beispiel in Aufklärungsveranstaltungen, an denen auch Spendenempfängerinnen und -empfänger teilnehmen.

 
An der Uniklinik Essen gibt es eine Forschergruppe zum Thema Optimierung der Leber-Lebendspende. Welche Rolle spielt die Lebendspende von Organen heute und wie wird sie sich entwickeln?

Dr. Ebru Yildiz: Das Forschungsprojekt beschäftigt sich damit, welche Leberteilstücke entnommen werden können, um zum Beispiel Kindern optimal helfen zu können. Die Lebendspende wird sich weiterentwickeln, solange es zu wenig postmortale Spenderinnen und Spender gibt. Wir brauchen diese Art der Spende auch, weil wir sonst zu viele Menschen auf der Warteliste verlieren. In anderen Ländern, beispielsweise in der Türkei, ist die Lebendspende sehr viel weiterverbreitet; dort kommen 50 Lebendspender auf eine Million Einwohner. Deutschland hinkt da hinterher. Die Lebendspende ist bei uns prinzipiell nicht so erwünscht, weil wir ja einem gesunden Menschen mit der Entnahme eines Organteils oder bei der Niere eines Organs zunächst einen Schaden zufügen, die primär medizinisch nicht notwendig ist für Ihn selbst. Aber eine Option sollte sie angesichts der niedrigen Zahl von postmortalen Spenderinnen und Spendern bleiben. Davon abgesehen erhält ein Lebendspender eine maximal gute Diagnostik vor Spende und eine jährlich verpflichtende Nachsorge. 


Die Uniklinik ist auch an einem anderen Forschungsprojekt beteiligt. Dabei geht es um die maschinelle Durchblutung von Transplantaten anstelle der herkömmlichen Kühlung auf Eis. Was versprechen Sie sich davon?

Dr. Ebru Yildiz: Aktuell können wir nur anhand der Untersuchungsergebnisse und Laborbefunde abschätzen, ob ein Organ eines Spenders für die Transplantation wirklich geeignet ist. Aber mit der maschinellen Durchblutung von Transplantaten lässt sich ein Organ ganz anders in Augenschein nehmen und beurteilen. Außerdem ist es sogar möglich, in gewissem Maße eine Therapie an diesem Organ vorzunehmen, beispielsweise eine verfettete Leber auszuwaschen. Der große Vorteil ist dabei, dass wir die Zahl der transplantierbaren Organe erhöhen. Dazu einige Zahlen: Von 2020 bis 2022 sind 79 Organe entnommen worden, die anhand der Untersuchungsergebnisse kritisch zu beurteilen waren. 75 davon wurden transplantiert. Das ist ein großer Schritt nach vorn. Natürlich ist der Aufwand so einer maschinellen Durchblutung zunächst höher als die Lagerung auf Eis bis zum Einsetzen des Organs. Aber wenn man damit ein Menschenleben retten kann, relativiert sich das schnell. Schaut man sich die Kosten bei einer Nierentransplantation im Vergleich mit denen der Dialyse an, verändert sich die Relation ebenfalls erheblich. Es ist ein Rechenexempel: Einmalige Kosten gegen mehrere Jahre komplikationsfreies Leben.  

 
Mittlerweile wird gern und viel über Organe aus dem 3D-Drucker geredet. Wird diese Technik die Transplantation mit all‘ ihren Schwierigkeiten verdrängen?

Dr. Ebru Yildiz: Der Mangel an Spenderorganen ist eine echte Notsituation, es sollten alle Wege gegangen werden, um diese Not zu lindern. Irgendwann wird diese Methode auch dazu beitragen. Aber ich denke, dass ich es in meinem Arbeitsleben nicht mehr erleben werde, dass ein funktionstüchtiges Organ aus dem 3D-Drucker kommt. Dafür sind die menschlichen Organe zu komplexe Systeme. So eine Niere kann man nicht einfach nachahmen.


Redaktion Ecclesia-Blog