Anja Blacha im Interview: Ausdauersportlerin und Höhenbergsteigerin spricht über Teamwork und Verantwortung
Zwölf der 14 höchsten Berggipfel dieser Welt – mehr als 8.000 Meter hoch – hat die 35-jährige Ostwestfälin bereits erreicht. Zudem absolvierte die gebürtige Bielefelderin, die in der Schweiz wohnt und arbeitet, 1.400 Kilometer zu Fuß von der Antarktis-Küste bis zum Südpol.
Im Ecclesia-Interview spricht die Ausdauersportlerin und Höhenbergsteigerin über Teamwork, Verantwortung und das Erreichen von Ziele. Anja Blacha erklärt, worauf es ankommt, um im Team Herausforderungen zu meistern und trotz Widerstände und möglicher Rückschritte große Ziele zu erreichen. Sie spricht detailliert über ihre Intention, ihre Expertise und ihre Erlebnisse.
Frau Blacha, was motiviert Sie, immer wieder neue, extreme Herausforderungen anzunehmen?
Anja Blacha: Meine Neugier ist groß und jede Expedition ist eine gute Gelegenheit, neue Horizonte zu entdecken und etwas über mich selbst und die Welt um mich herum zu lernen. Meine Reisen bringen mich hinaus in einmalige Landschaften von schier endlosen Eiskappen bis hin zu monumentalen Berglandschaften, lassen mich Polarlichter und Nebensonnen erblicken, tosenden Sturm und absolute Stille erfahren. Gleichzeitig kommen mit jedem Expeditionsziel, das ich mir vornehme, neue Fähigkeiten und Menschen hinzu, die mich auf meinem Weg nach vorne bringen. Die Erfahrungen, die ich mit nach Hause nehme, bereichern mein Leben nachhaltig. Die Freude am Entdecken gepaart mit den besonderen Naturerlebnissen und der Möglichkeit, mich an herausfordernden Zielen weiterzuentwickeln, treibt mich an, immer wieder herauszugehen.
– Anja BlachaEntscheidungen in riskanten Lebenssituationen erfordern Klarheit, Ruhe und eine rationale Abwägung der Situation.
Wie treffen Sie Entscheidungen in riskanten Lebenssituationen und was sind die wichtigsten Faktoren, die Sie dabei berücksichtigen?
Anja Blacha: Entscheidungen in riskanten Lebenssituationen erfordern Klarheit, Ruhe und eine rationale Abwägung der Situation. Aber nicht immer bleibt Zeit für einen umfassenden Entscheidungsprozess. In diesen Momenten verlasse ich mich auf meine Intuition – und analysiere die Situation in der Rückschau. Dabei muss ich mich auf meine Erfahrung, mein Wissen und meine Vorbereitung verlassen. Je besser ich im Vorfeld die Risiken abschätzen kann, desto sicherer bin ich am Berg unterwegs – sei es in Passagen mit Steinschlaggefahr, spaltenreichem Terrain oder schneebeladenen Hängen mit Lawinengefahr.
Wichtig ist dabei, mich nicht von Emotionen leiten zu lassen. Es darf keinen Unterschied machen, wie viel Zeit und Energie ich schon investiert habe oder wie nah ich dem Gipfel bin. Wenn es zu riskant wird, steige ich ab. Im Team kommen dann noch weitere Faktoren hinzu. Es muss klar sein, wie wir als Team agieren, wer welche Verantwortung trägt, wer welche Entscheidungsbefugnisse hat.
In extremen Situationen ist oft die Anspannung groß. Es lässt sich nicht mehr so klar und vernünftig denken. Daher versuchen wir bereits vorab die kritischen Szenarien durchzusprechen und uns hinterher auch strikt daran zu halten. Ein gutes Beispiel ist die Entscheidung, wann man am Gipfeltag umkehrt. Hier spielen viele Faktoren eine Rolle: die Wetterbedingungen, die körperliche Verfassung der Teammitglieder, die verbleibende Zeit und die Ressourcen. Nicht selten gab es schon Tragödien, wenn vorab definierte Umkehrzeiten ignoriert wurden, weil sich mit dem Gipfel in greifbarer Nähe das sprichwörtliche Gipfelfieber einschlich und die Risiken vergessen wurden.
– Anja BlachaWenn ich herausfordernde Situationen positiv annehme, als Chance an ihnen zu wachsen, wird aus dem negativen Stress eine positive Form, nämlich Eustress.
Gab es auf Ihren Erlebnisreisen besonders eingängige Momente und Situationen, die Sie nachhaltig prägen und die Sie in Ihrem täglichen Leben anwenden?
Anja Blacha: Es gibt viele Momente auf meinen Reisen, die mich nachhaltig geprägt haben. Einer davon war meine Begegnung mit Kaiserpinguinen an der Antarktis-Küste. Einige Zeit danach habe ich Berichte gelesen, dass traurigerweise bei vier von fünf beobachteten Pinguinkolonien der gesamte Nachwuchs gestorben war, weil das Eis unter den Füßen der Tiere weggeschmolzen war, ehe sie im Meer überlebensfähig waren. Das zeigt, wie stark der Klimawandel bereits jetzt Lebensräume zerstört. Solche Erlebnisse sensibilisieren mich stark für die Themen Klima und Nachhaltigkeit.
Lassen sich auf Ihren Touren eventuell auch neue Erkenntnisse für das Teamwork im Arbeitsleben gewinnen?
Anja Blacha: Ja, die Zusammenarbeit und das Miteinander auf Expeditionen haben mich definitiv geprägt. Auf einer Expedition erleben wir vieles, was wir auch im normalen Arbeitsleben erleben, aber in einer stark verdichteten Form. Die Erkenntnisse hieraus nehme ich in mein tägliches Leben zurück, sei es, wenn es darum geht, persönlich mit Stresssituationen umzugehen oder darum im Team gemeinsam voranzukommen. Resilienz, klare Kommunikation sowie Eigenverantwortung und gegenseitiges Vertrauen sind essenziell, um auf Expeditionen genauso wie im Berufs- und Privatleben erfolgreich zu sein.
Südpol, Mount Everest und noch viel mehr: Wie bereiten Sie sich als Extremsportlerin und Gipfelstürmerin mental und physisch auf Ihre Expeditionen vor?
Anja Blacha: Jede Expedition ist Vorbereitung und Sprungbrett für die nächste. In Peru war ich erstmals wandern, es folgte der Aconcagua in Argentinien und von da an habe ich mich immer weiter und höher entwickelt. Mit jeder Expedition kommen auch neue Elemente hinzu – die erste Felskletterei, das erste Mal als Seilschaft auf einem Gletscher, das erste Mal Aufstieg in die Todeszone.
Entsprechend schaue ich mir die konkreten Herausforderungen des jeweiligen Berges an – und eigne mir gezielt die Skills an, die mir noch fehlen. Physische Vorbereitung ist essenziell, denn es braucht die nötige Kraft und Ausdauer, Bewegungssicherheit im alpinen Gelände sowie den geübten Umgang mit der Ausrüstung. Mental profitiere ich von genau dieser Vorbereitung und dem Wissen, mich für meine Herausforderungen qualifiziert zu haben. Das schafft ein positives Mindset. Was die Ausrüstung gerade für Polarexpeditionen anbelangt, arbeite ich derzeit eng mit einer Hochschule zusammen. Da läuft viel Produktentwicklung im Hintergrund und es macht mir große Freude, mittlerweile die ersten Prototypen getestet zu haben und sie zur Produktreife zu bringen.
Inwiefern spielen Ihre Erfahrungen als Fechterin eine Rolle?
Anja Blacha: Das Fechten war eine gute Starthilfe für meine Beinmuskulatur. Das Muskelgedächtnis funktioniert sehr gut, wie sich beim Bergsteigen gezeigt hat. Ich habe auch immer wieder auf Wettkämpfen gefochten. Das hilft mir, um in Stresssituationen einen klaren Kopf zu bewahren und die erforderliche Leistung abzurufen. Für mich ist und war das am Berg sehr hilfreich.
– Anja BlachaIch verausgabe mich nie komplett, denn es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren, auf das ich reagieren muss – ein Wetterumschwung, ein Spaltensturz, ein Teamkollege, der Hilfe benötigt. Den Puffer benötige ich auch, um schneller zu regenerieren.
Welche Rolle spielt Resilienz in Ihrem Leben und wie haben Sie Ihre Fähigkeit entwickelt?
Anja Blacha: Resilienz ist ein riesengroßes Thema. Mir ist Durchziehen wichtig. Wenn ich mir etwas vornehme, dann will ich es auch erreichen. Da hilft mir ein bisschen die ostwestfälische Sturheit (lacht). Resilienz lebt von der Fähigkeit, sich an Widerständen nicht aufzureiben, sondern sie zu überwinden und langfristig leistungsfähig zu bleiben.
Ich verausgabe mich nie komplett, denn es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren, auf das ich reagieren muss – ein Wetterumschwung, ein Spaltensturz, ein Teamkollege, der Hilfe benötigt. Den Puffer benötige ich auch, um schneller zu regenerieren. Um es an dem Beispiel eines Handy-Akkus zu veranschaulichen: Wenn wir ihn komplett entladen, erscheint ein Blitz und es dauert lange, bis er wieder auflädt. Wenn wir jedoch bei zwei oder drei Prozent anfangen zu laden, lädt er sofort auf. Um metaphorisch über meine Grenzen zu gehen, darf ich im praktischen Sinne nie an meine Grenzen gehen. Resilienz baut auch auf das Mindset. Wenn ich herausfordernde Situationen positiv annehme, als Chance an ihnen zu wachsen, wird aus dem negativen Stress eine positive Form, nämlich Eustress. Eustress motiviert, sorgt für Entspannung und bewirkt genau die Aktivierung, die wir brauchen, um eine optimale Leistungsfähigkeit abzurufen. Auch die Willenskraft lässt sich trainieren wie ein Muskel. Je häufiger wir selbst kleinste Überwindungen meistern, desto stärker wird das hierfür verantwortliche Hirnareal. Allein schon durch den Alltag auf Expeditionen habe ich dies unweigerlich viel trainiert. Denn sich in eisiger Kälte auch nur aus der Geborgenheit des Schlafsacks zu quälen, erfordert bereits einiges an Willenskraft.
Stichwort Seven Summits: Sie haben alle Gipfel gemeistert. Wo gab es Parallelen, was waren die entscheidenden Unterschiede? Welche dieser Herausforderungen war für Sie die größte und warum?
Anja Blacha: Die Seven Summits waren für mich eine bunte Reise und sind wunderschön, um die Vielfalt dieser Welt kennenzulernen. Die Länder, Kulturen und Berge sind völlig unterschiedlich. Die Carstensz-Pyramide in Indonesien, mit 4.884 Metern der höchste Berg Ozeaniens, war die exotischste dieser Expeditionen, beginnend schon mit der Anreise ins Basislager. Wir wurden in Papua von indigenen Einwohnern in Empfang genommen und übernachteten in der Hütte des Stammeshäuptlings, ehe es am darauffolgenden Tag durch den Dschungel ging. Unterstützt wurden wir von Portern, die den Reiseproviant bestehend aus Süßkartoffeln in großen Beuteln mit Stirnriemen über den Kopf stemmten und obendrauf noch ihre Kleinkinder setzten; sie hatten Lebtags keine Schuhe getragen, wussten dafür jedoch bestens mit Pfeil, Bogen und Axt umzugehen.
Ganz anders ist da die weiße Gletscherwelt des Denali in Alaska, wo alles glitzert und funkelt, oder der Kilimandscharo, wo am Berg gesungen und getanzt wird, bis abends die Sonne am Horizont untergeht und die Landschaft in orange-goldenes Licht taucht.
So hat jeder Berg seine eigenen Herausforderungen, sei es die Höhe, das Wetter oder die technische Schwierigkeit. Der Mount Everest steht allein schon aufgrund seiner 8.848 m, die es zu erklimmen gilt, heraus. Der Denali erfordert die meiste Kraft, gilt es doch sämtliche Ausrüstung und Versorgung vom ersten bis zum letzten Tag mit sich zu tragen. In der Antarktis kann es extrem kalt und windig werden – ist man nur kurz unachtsam, kommt es schnell zu Erfrierungen. Jeder dieser Gipfel brachte einzigartige Lektionen und Erfahrungen mit sich, die mich sowohl als Bergsteigerin als auch als Person geprägt haben.
Anja Blacha
Zur Person
Die Ausdauer- und Extremsportlerin sowie Höhenbergsteigerin wurde 1990 in Bielefeld geboren und lebt in der Schweiz. Sie hat bereits zwölf 8.000er bestiegen, darunter dreifach den Mount Everest. Weltweit gibt es 14 Berge mit dieser Höhe: nur noch zwei Besteigungen fehlen Anja Blacha, um alle Gipfel der global höchsten Berge erreicht zu haben: Der Lhotse (8.516 Meter) in Nepal und die Shishapangma (8.027 Meter) in Tibet. Die 35-Jährige hält eine Reihe von Rekorden: 2017 bestieg sie als jüngste deutsche Frau den Mount Everest und bezwang zudem als jüngste Deutsche alle Seven Summits. 2019 erreichte Anja Blacha als erste deutsche Frau den Gipfel des K2. 2020 schaffte sie als erste Frau weltweit, ohne Fremdhilfe und alleine eine Polarexpedition von der Küste der Antarktis bis zum Südpol.