Standardisierung im Krankenhausmanagement
System Krankenhaus: Selbst das Einfache ist komplex
Schon die „einfache“ Versorgung einer chirurgischen Patientin oder eines Patienten ist gekennzeichnet von der interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen am vulnerablen Patienten – unter Einsatz technischer Geräte, unter Zeitdruck und Stress. Diese Interdisziplinarität aus Ärzteteam, Pflegenden, Therapeutinnen und Therapeuten, Sozialdiensten und weiteren unterstützenden Berufsgruppen wie Stationsassistenzen und Reinigungskräften gilt als ein Erfolgsfaktor für ein optimales Patientenoutcome.
Die Interdisziplinarität ist aber auch ein Risiko für die Patientensicherheit. Denn alle Arbeitsabläufe, Vorgehensweisen und Handlungen müssen allen Beteiligten vermittelt sowie von allen akzeptiert und umgesetzt werden. Dazu müssen diese Prozesse in ihrer Komplexität reduziert werden. Schafft man diese Reduktion, lassen sich Behandlungsergebnisse verbessern und Komplikationsraten reduzieren.
Das Mittel der Wahl: Arbeitsweisen vereinheitlichen
Ein Mittel zur Reduktion von Komplexität ist die Vereinheitlichung von Arbeitsweisen. Diese Vereinheitlichungen, sogenannte Standards, können in unterschiedlichen Bereichen vorgenommen werden, zum Beispiel bei der Auswahl an Implantaten, Medikamenten oder Medizingeräten. Aber auch diagnostische und therapeutische Prozesse sowie die Kommunikation untereinander können (teil-) standardisiert werden.
In einer Abteilung können dafür die Vorgehensweisen für Routine- und Notfälle in SOPs (Standard Operating Procedures) festgelegt und freigegeben werden. Der Vorteil liegt in der Verschriftlichung von bereits erfolgreich praktizierten Arbeitsabläufen, die vom einzelnen Teammitglied antizipiert werden und zu einem gemeinsamen Denkmodell führen. Jedes Mitglied übernimmt diese erfolgreichen Arbeitsabläufe und wird dadurch entlastet, weil es nach bewährten Standards vorgehen kann und nicht jedes Mal neu entscheiden muss.
Anforderungen an SOPs: kurz, einfach, praxisnah
Die Erstellung von SOPs und die anschließende Verbreitung und Rezeption im Behandlungsteam braucht erfolgsfördernde Faktoren, sonst kann es zu der Situation kommen, dass akribisch erstellte SOPs zwar im Intranet hinterlegt, aber unbekannt sind. Auch findet es sich häufig, dass deren Inhalt deutlich von der praktizierten Realität abweicht.
Zu den erfolgsfördernden Faktoren zählen die Einbindung weiterer Berufsgruppen in die Erstellung einer SOP, die Verwendung von evidenzbasiertem Wissen und die Herstellung eines direkten Bezugs auf die eigene Arbeitssituation. SOPs sollen keine Lehrbücher ersetzen, sondern das Lehrbuchwissen operationalisieren. Sie sollten schnell und einfach konsumiert werden können, beispielsweise in einer Dokumentenlenkungssoftware und in einer übersichtlichen Länge. Ein Standard sollte die W-Fragen übersichtlich beantworten: Wer macht was, wann, mit wem und auf welcher wissenschaftlichen Grundlage?
Für die Freigabe einer SOP kann es mehrere Verantwortliche geben. Eine SOP zum postoperativen Nahrungsaufbau auf der Station hat einen anderen Ersteller- und Adressatenkreis als eine SOP zum interdisziplinären Vorgehen beim akuten Abdomen in der Notaufnahme. Um die Akzeptanz beim Personal zu steigern, ist ein gemeinsames Freigabeverfahren der Abteilungsleitungen zweckmäßig.
Standardisierungen verringern Komplikationsraten und schaffen Vertrauen
Im Hinblick auf die Patientensicherheit ist die Standardisierung von Behandlungsabläufen aus mehreren Gründen sinnvoll. Zum einem weisen erste Ergebnisse darauf hin, dass SOPs zu verringerten Komplikationsraten beitragen und die Behandlungsergebnisse insgesamt verbessern. Zum anderen kann die Patientin oder der Patient erwarten, dass die Behandlung seines Krankheitsbildes proaktiv und interdisziplinär durchdacht wurde. Das vermittelt Sicherheit und schafft Vertrauen. Zusätzlich gefördert wird die Vertrauensbildung durch die dadurch möglichen einheitlichen Aussagen des Personals gegenüber der Patientin oder dem Patienten.
Aber auch in haftungsrechtlicher Hinsicht ist eine SOP hilfreich. So kann in der Patientendokumentation auf eine SOP verwiesen werden, zum Beispiel bei der Verordnung von Schmerzmitteln oder zur Einhaltung von Hygienestandards. Oder in juristischen Auseinandersetzungen kann das abteilungsinterne übliche Vorgehen daran verdeutlicht werden; eventuelle Zweifel an organisatorischen, therapeutischen oder diagnostischen Standards lassen sich so glaubwürdig entkräften.
Standardisierte Kommunikation: eine unrealistische Idee?
Nicht nur eine reduzierte Komplexität der Behandlungsabläufe führt zu mehr Patientensicherheit, sondern auch ein weiterer wichtiger Faktor: die Kommunikation. Hannawa et al. zeigen anhand von 39 Fallstudien zu Patientenschäden die hohe Bedeutung der Kommunikation für ein positives Patientenoutcome auf. Sie bezeichnen die zwischenmenschliche Kommunikation als den essenziellen Träger für eine sichere und hochqualifizierte Patientenversorgung. Eine Standardisierung von Kommunikation erscheint auf den ersten Blick für ein Krankenhaus nicht realisierbar. Doch auch in einer Klinik können – analog zur Luftfahrt – sinnvolle Teilstandardisierungen eingeführt werden.
Patientensicherheit: von Luftfahrt und Hotels lernen
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt für eine sichere Kommunikation verschiedene Verfahren, die sich in anderen Bereichen bewährt haben, zum Beispiel das Read-back-Verfahren kombiniert mit dem SBAR-Schema und der Call-out-Methode. Read-back bedeutet: Eine schriftliche oder mündliche Information wird von der Person, die die Anordnung erhalten hat, mündlich wiederholt. Dabei kann überprüft werden, ob das Gesagte richtig verstanden wurde. Dieses Verfahren zur Verbesserung der Kommunikation wird von Pilotinnen und Piloten oder auch in der freien Wirtschaft genutzt. Wenn beispielsweise ein Zimmer im Hotel telefonisch reserviert wird, notiert sich der Mitarbeitende des Hotels die Kontaktdaten des Kunden und wiederholt diese, um Zahlendreher oder Missverständnisse zu vermeiden.
Das SBAR-Schema – ursprünglich in der US Navy entwickelt – zielt darauf, eine Information immer nach derselben Struktur und zudem kurz und knapp weiterzugeben. Das „S“ steht für „Situation“, die der Sprecher dem Zuhörer beschreiben soll. Zur Situation gehört der Gesprächsanlass, die Information, um welchen Patienten es geht und in welcher Verfassung sich dieser befindet. Das „B“ steht für „Background“ (Hintergrund). Es werden die anamnestischen Risiken wie Vorerkrankungen oder Allergien und der Grund des aktuellen Krankenhausaufenthaltes genannt. Beim „A“ für „Assessment“ (Einschätzung) bewertet der Sprecher die aktuelle Situation und stellt wichtige Parameter heraus, gegebenenfalls äußert er eine Verdachtsdiagnose. Im letzten Schritt, dem „R“ für „Recommendation“ (Empfehlung), formuliert er seine Erwartungshaltung an den Zuhörer. Das kann die Verordnung eines Medikamentes, eine klinische Untersuchung oder die Hinzuziehung einer weiteren Expertin oder eines Experten sein.
Medikationsanordnung – mündlich, schriftlich, digital
Ein Beispiel: Am späten Abend wird die in der Notfallambulanz stark eingebundene diensthabende Chirurgin von der Pflegekraft auf der Station angerufen, die um eine Schmerzmittelverordnung bittet. Nach SBAR-Schema erhält die Chirurgin einen Überblick über die Situation des Patienten. Sie erhält Antworten auf die Fragen: Welcher Patient benötigt was und warum. Sie bekommt Informationen zu seinen Vorerkrankungen, Allergien und welche Medikamente bereits verabreicht wurden. Die Pflegekraft schätzt das Ausmaß der Schmerzen ein und empfiehlt ein weiteres Vorgehen. Die Chirurgin kann Details nachfragen und eine Anordnung treffen. Bei der Anordnung wiederholt sie gegebenenfalls die Empfehlung der Pflegekraft. Diese wiederholt die Anordnung erneut, sodass bei beiden Klarheit über die Indikation, das Medikament, dessen Dosierung und Applikationsform besteht.
Liegt eine Medikation ausschließlich schriftlich vor, verringert schon die sogenannte Call-out-Methode – ebenfalls im Cockpit erprobt – die Fehler. Dabei liest die Pflegekraft die Medikation einfach nur sich selbst laut vor. Diese Methode wurde anfangs gelegentlich belächelt, aber es ist erwiesen, dass das laute Sprechen den Sprechenden besser davor schützt, Informationen zu überlesen.
Durch Digitalisierung, beispielsweise die Anordnung von Medikamenten in der elektronischen Patientenakte, können manche Kommunikationsfehler von vornherein vermieden werden, aber nicht vollständig. Bei aller Digitalisierung der Prozesse werden im Krankenhaus auch in Zukunft die verschiedenen Akteure persönlich miteinander kommunizieren, allein schon bei Notfallsituationen: Da müssen alle schnell handeln und miteinander reden, bevor sie an die Nutzung einer Software auch nur denken können. Die Kommunikation wird auch in der digitalen Zukunft immer wieder ganz analog erfolgen – und eine Quelle für mögliche Fehler darstellen.
Jedes Teammitglied kann einen aktiven Beitrag leisten
Das Bemühen, die persönliche Kommunikation zu standardisieren, ist daher nötig, um die Patientensicherheit zu erhöhen. Die Umsetzung der (Teil-) Standardisierung in der täglichen Praxis kann an Widerständen im Behandlungsteam, an der Geringschätzung seiner Bedeutung für die Patientensicherheit oder an mangelnder Integration in den Arbeitsalltag scheitern. Sie muss deshalb gut geplant, begleitet und von den Führungskräften gewollt und eingefordert werden. Dann kann jeder einzelne durch die Anwendung teilstandardisierter Kommunikation einen aktiven Beitrag zu mehr Patientensicherheit leisten.
Fazit: unschlagbare Vorteile
- Standardisierungen in Form von interdisziplinär erstellten und freigegeben SOPs haben das Potential, die Komplexität im Hochrisikobereich Krankenhaus zu reduzieren.
- Standardisierung der zwischenmenschlichen Kommunikation ist möglich und kann ebenfalls Fehler reduzieren.
- Standardisierung trägt zur Patientensicherheit und zum Vertrauen bei und unterstützt in juristischen Auseinandersetzungen.
Quellen:
www.businessinsider.de/wirtschaft/obama-traeumt-von-einem-eigenen-t-shirt-laden-auf-hawaii-ohne-grosse-verantwortung-2016-7/; Pamela Engel; abgerufen am 15.12.2021.
Gausmann, Henninger, Koppenberg: „Patientensicherheitsmanagement“, 2. Auflage, 2022, Walter de Gruyter GmbH, Berlin, S. 4.
Kahla-Witzsch, Platzer: „Risikomanagement für die Pflege. Ein praktischer Leitfaden.“, 2. Überarbeitete Auflage, 2018, W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, S. 134-139.
St. Pierre, Hofinger: „Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin“, 3. Auflage, 2014, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, S. 318-320.
Hannawa, Wu, Juhasz: New Horizons in Patient Safety: Understanding Communication. 2017, Walter de Gruyter GmbH, Berlin, S. 241-243.
WHO: „Globaler Aktionsplan für Patientensicherheit 2021-2030. Auf dem Weg zur Beseitigung vermeidbarer Schäden in der Gesundheitsversorgung – in deutscher Übersetzung“, Bundesministerium für Gesundheit, 2021, S. 2.
www.pflegen-online.de/sicher-medikamente-geben-was-piloten-empfehlen; Kirsten Gaede, 2. April 2019; abgerufen am 15. Dezember 2021.
www.aerzteblatt.de/archiv/197286/Kommunikation-Absprachen-klar-strukturieren; Markus Holtel, Dtsch Arztebl 2018; 115(14): A-662 / B-572 / C-572; abgerufen am 15. Dezember 2021.