
Cawa Younosi im Interview: Wie Verantwortungsbewusstsein und Vielfalt soziale Einrichtungen zukunftsfähig machen
In einer Zeit, in der sich Arbeitswelten verändern und die Herausforderungen in der Sozialwirtschaft zunehmen, gewinnt ein Thema besonders an Bedeutung: Eigenverantwortung. Doch was heißt das konkret? Für Cawa Younosi, Geschäftsführer der Charta der Vielfalt und ehemaliger Personalchef sowie Mitglied der Geschäftsführung von SAP Deutschland, bedeutet Eigenverantwortung nicht Selbstoptimierung um jeden Preis, sondern vor allem eins: erwachsen zu handeln, Chancen zu erkennen und in seinem Einflussbereich aktiv zu gestalten.
Herr Younosi, was bedeutet für Sie denn persönlich Eigenverantwortung?
Cawa Younosi: Eigenverantwortung bedeutet für mich, erwachsen zu werden und sich selbst zu reflektieren. Um Verantwortung zu übernehmen, muss ich meine Herausforderungen, Chancen und Risiken erkennen. Statt mich auf Probleme zu konzentrieren, sollte ich chancenorientiert handeln und mich auf das fokussieren, was in meinem Einflussbereich liegt. In einer sich so schnell verändernden Welt ist es wichtig, aktiv zu handeln und nicht in Resignation zu verfallen.
Eigenverantwortung ist eng mit persönlichem Wachstum und gesellschaftlichem Fortschritt verbunden. Denn nur wenn Menschen eigenverantwortlich handeln, können wir gemeinsam Probleme lösen und nach vorne kommen.
Denken Sie, dass Eigenverantwortung auch ein zentraler Hebel für den Erfolg der Sozialwirtschaft sein könnte?
Cawa Younosi: Grundsätzlich schon. Aber es ist wichtig, Eigenverantwortung nicht so zu interpretieren, dass alle Probleme im Alleingang gelöst werden müssen – insbesondere in der Pflege, wo viele Faktoren von der Politik, Bürokratie und regulatorischen Rahmenbedingungen abhängen.
Man sollte die Verantwortung nicht vollständig auf die Einrichtungen abwälzen, sondern dort, wo Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, aktiv nach Lösungen suchen. Anstatt auf Empfehlungen und Maßnahmen von Verbänden und Politik zu warten, sollten eigene Vorstellungen und Anregungen eingebracht werden. Auch im eigenen Haus sollten organisatorische Abläufe analysiert und verbessert werden, um die Gründe für das Ausscheiden von Mitarbeitenden zu verstehen und anzugehen. Es besteht auch die Gefahr, dass wirtschaftliche Risiken abgewälzt werden, was vermieden werden muss. Stattdessen sollten die Einrichtungen proaktiv handeln und die Dinge anpacken, die sie selbst beeinflussen können.

– Cawa YounosiGerade in der Pflege und anderen gemeinnützigen Bereichen sind viele Menschen nicht monetär motiviert, sondern handeln aus Sinnhaftigkeit.
Wie kann Eigenverantwortung gezielt als Bestandteil einer modernen Personalstrategie in der Sozialwirtschaft eingesetzt werden?
Cawa Younosi: Ich kann aus meiner Erfahrung sagen, dass nicht jeder Mensch geeignet ist, eigenverantwortlich zu organisieren und zu führen, was beim Recruiting berücksichtigt werden sollte. Einige Menschen möchten selbstständig arbeiten und ihre Zeit eigenverantwortlich organisieren, während andere klare Leitplanken und eine enge Begleitung benötigen. Es ist wichtig, diese Unterschiede zu erkennen, um Überforderung zu vermeiden, die dann zu einem Leistungsmangel führen kann.
Menschen, die in einer unpassenden Umgebung arbeiten, erscheinen oft als unmotiviert oder ungeeignet. Daher ist es entscheidend, beim Recruiting die richtigen Personen entsprechend ihrer Stärken und Vorlieben für das jeweilige Führungsverständnis auszuwählen, anstatt zu versuchen, sie durch Personalentwicklungsmaßnahmen zu verändern.
Die Sozialwirtschaft konkurriert mit anderen Branchen um Fachkräfte – wie können die Organisationen und Institutionen ihre Attraktivität steigern?
Cawa Younosi: Geld spielt zwar eine wichtige Rolle, ist aber nicht alles. Gerade in der Pflege und anderen gemeinnützigen Bereichen sind viele Menschen nicht monetär motiviert, sondern handeln aus Sinnhaftigkeit. Unternehmen haben die Möglichkeit, ihre Mitarbeitenden emotional zu binden – auch wenn sie woanders mehr Geld verdienen könnten.
Ein Beispiel dafür ist die Reaktion von SAP auf die Corona-Pandemie: Während des Lockdowns haben wir unseren Mitarbeitenden ermöglicht, von zu Hause zu arbeiten. Eltern, die Kinder betreuen mussten, als Schulen wegen Corona geschlossen waren, wurden von der Arbeit befreit, ohne dass sie dafür Urlaubsanträge einreichen mussten. Diese Geste der Wertschätzung hatte eine unbezahlbare Wirkung und zeigt, dass es auch einfache Maßnahmen gibt, die die Bindung der Mitarbeitenden stärken können.

– Cawa YounosiVielfalt ist kein Ziel, sondern eine Realität – sie existiert bereits. Doch Diversität bringt nicht automatisch Harmonie, sondern oft auch Reibung und Konfliktpotenzial.
Gab es bei SAP weitere Ansätze, die sich auf die Träger in der Sozialwirtschaft übertragen lassen?
Cawa Younosi: Ja. In meiner Zeit bei SAP habe ich beispielsweise erlebt, dass die Gehälter in den USA sehr stark gestiegen sind, was es schwierig machte, wettbewerbsfähig zu bleiben. Da haben wir den Fokus bewusst auf die Unternehmenskultur gelegt, um „Wow-Momente“ zu schaffen, die die Mitarbeiterbindung stärken. Diese Maßnahmen waren kostengünstiger als Gehaltserhöhungen und führten dazu, dass die Fluktuationsrate von 13 auf 6 Prozent sank. Mitarbeitende, die nur auf Geld aus waren, verließen das Unternehmen, während die loyalen Mitarbeitenden blieben. Das unterstreicht die Relevanz einer positiven Unternehmenskultur. Auch wenn Mitarbeitende darüber nachdenken, dass sie woanders zwei Euro mehr verdienen können, berücksichtigen sie oft, dass sie dort vielleicht nicht die gleichen Vorteile und die gleiche Wertschätzung bekommen. Deshalb ist es wichtig, dass Arbeitgebende die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden erkennen und darauf eingehen.
Inwiefern kann eine diverse Belegschaft zur Stärkung von Eigenverantwortung beitragen – und wo liegen dabei mögliche Spannungsfelder?
Cawa Younosi: Vielfalt ist kein Ziel, sondern eine Realität – sie existiert bereits. Doch Diversität bringt nicht automatisch Harmonie, sondern oft auch Reibung und Konfliktpotenzial. Deshalb braucht es aktives Diversitätsmanagement, um einen Rahmen zu schaffen, in dem Menschen sich zugehörig und gehört fühlen – unabhängig von beispielsweise Herkunft, Alter, Religion oder Kultur. Aber ein diverses Team funktioniert nicht automatisch gut – wenn man zum Beispiel Menschen mit sehr gegensätzlichen politischen Hintergründen zusammenbringt, ist Streit vorprogrammiert. Daher ist Zugehörigkeit entscheidend: Es geht darum, ein „Wir-Gefühl” zu schaffen, in dem alle ihre Einzigartigkeit einbringen dürfen, ohne sich ausgeschlossen zu fühlen. Nur wenn Menschen sich sicher und wertgeschätzt fühlen, können sie authentisch, kreativ und leistungsfähig sein. Teams sind dann erfolgreich, wenn die Energie für Konflikte geringer ist als die Energie, die in Produktivität fließt. Konflikte gehören dazu – entscheidend ist, wie damit umgegangen wird: mit Respekt und Verständnis. Ein gutes Diversitätsklima sorgt nicht nur für bessere Zusammenarbeit, sondern auch für niedrigere Krankheitsraten, höhere emotionale Bindung und langfristig einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen, die nur „nach Excel-Tabelle“ führen.

– Cawa YounosiKonflikte gehören dazu – entscheidend ist, wie damit umgegangen wird: mit Respekt und Verständnis.
Wenn Sie einen Appell an die Personalverantwortlichen in der Sozialwirtschaft richten können – was geben Sie ihnen mit auf den Weg?
Cawa Younosi: Einen Appell zu formulieren fällt mir schwer, aber das Wesentliche ist: Mitarbeitende ernst nehmen, präsent und ansprechbar sein. Personalverantwortliche sollten „auf dem Marktplatz stehen“ – also mitten im Geschehen, nah bei den Menschen. Nach der Devise HMSH: Haltung, menschlich, sichtbar, hörbar. Das bedeutet zugänglich zu sein, ehrlich zu kommunizieren, im Arbeitsalltag sichtbar zu sein und die eigene Rolle zu 50 Prozent als Kommunikation zu verstehen – nicht nur als Administration. Man muss sowohl Lob als auch Kritik offen annehmen können. Ob jemand sagt: „Sie machen einen super Job“ oder „Das war nicht so gut“, beides sollte willkommen sein. Künstliche Intelligenz kann dabei unterstützen, aber sie ersetzt nicht die Nähe zum Menschen. Also versteckt euch nicht in Personalbüros – seid greifbar, beobachtend, zuhörend. So erfahrt ihr schnell, was eure Mitarbeitenden bewegt: Wo liegt Energie, die genutzt werden könnte? Was fehlt, was vielleicht eingeführt werden sollte? Und genauso: Was nervt, was abgeschafft werden kann? Denn am Ende geht es darum, eine Kultur zu schaffen, in der Mitarbeitende spüren, dass sie gesehen, gehört und ernst genommen werden.