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Das Leading-Nurse-Prinzip: Wie es gelingt, Pflege nachhaltig besser zu organisieren

Die Caritas gGmbH St. Heinrich und Kunigunde aus Bamberg überträgt in einem modernen Projekt, das vom bayerischen Gesundheitsministerium gefördert wird, in 16 stationären Einrichtungen die fachliche Verantwortung an Leading Nurses. Das verändert im positiven Sinn die Arbeitsweise und die Kultur
in den Pflegeeinrichtungen des gemeinnützigen Trägers aus Franken.

Das Ziel: eine neue Rolle für Pflegefachkräfte, um den Herausforderungen in der Pflege etwas entgegenzusetzen. Eine Leading Nurse übernimmt jeweils die fachliche Verantwortung für eine Bewohnergruppe, sie plant die Pflegemaßnahmen, delegiert an Assistenzkräfte und ist Ansprechpartnerin für alle Belange rund um ihre Pflegebedürftigen. Sie trifft die finale fachliche Entscheidung bei Veränderungen und im Hinblick auf pflegerische Maßnahmen. Mit der Leading Nurse ist klarer geworden, wer im Pflegeteam welche Aufgabe übernimmt – Kompetenzen und Qualifikation geben den Ausschlag.

Dies entspricht dem neuen bundesweit einheitlichen Verfahren zur Personalbemessung in vollstationären Pflegeeinrichtungen – kurz PeBeM. Dieses Verfahren ermittelt anhand des Pflegebedarfs der Bewohner, wie viele Pflege- und Betreuungskräfte erforderlich sind, um die Pflegebedürftigen angemessen zu versorgen. Der passende Qualifikationsmix stellt sicher, dass es klare Zuständigkeiten in den Teams gibt und Pflegefachpersonen ihre Fachlichkeit einbringen können. So soll mit der Pflegeorganisation „Leading Nurse“ eine bedarfsorientierte, qualitativ hochwertige und effektive Pflege entstehen. Die Gewinnung und Bindung von Personal, eine geringere Fluktuation und die nachhaltige Steigerung der Attraktivität des Berufsbildes Pflege sind weitere Ziele.

Die Aufgaben der Leading Nurse

Leading Nurses sind Pflegefachkräfte, die in einer 160-stündigen Qualifizierung auf ihre neue Verantwortung vorbereitet werden. Sie übernehmen die fachliche Verantwortung für eine Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern, planen und steuern die Pflegeprozesse dieser Pflegebedürftigen.

Beispiele für konkrete Aufgaben der Leading Nurses:

  • Steuerung, Überwachung, Evaluierung, Anpassung und Dokumentation des Pflegeprozesses nach Expertenstandards (DNQP)
  • Pflegerische Neuaufnahme von Bewohnern und nach Krankenhaus-Aufenthalt
  • Finale fachliche Entscheidung bei Veränderungen und Entscheidung über pflegerische Maßnahmen
  • Durchführung von Pflegevisiten und Fallbesprechungen
  • Festlegung und Stabilisierung der Kommunikation mit Angehörigen, Ärzte, Therapeuten und anderen Bereichen der Einrichtung
  • Einbindung interner und externer Beteiligter am Versorgungsprozess
  • Fachliche Delegation an Pflegehilfskräfte und Überprüfung der Maßnahmen

Veränderung der gesamten Einrichtung

Doch die Einführung einer neuen Rolle allein reicht nicht aus, um auf die Herausforderungen in der Pflege nachhaltig zu reagieren. Wichtig ist, dass das große Ganze ins Rollen kommt: Prozesse, Strukturen, Menschen.

Als Träger hat die Caritas St. Heinrich und Kunigunde Anfang 2023 den Schritt gewagt, die Arbeitsweise sowie die Kultur in ihren fränkischen Einrichtungen in Richtung Verantwortungsübernahme und Veränderungskompetenz zu transformieren. Mit der Einführung des Pflegeorganisationssystems „Leading Nurse“ war der Anfang getan. In jeder Einrichtung wird bis Ende 2025 eine definierte Anzahl an Leading Nurses installiert, ein Großteil der Pflegekräfte weiterqualifiziert und den individuellen Kompetenzen entsprechend eingesetzt. Strukturen und Prozesse werden angepasst und die Kommunikation gestärkt. Diese Vielzahl an Aufgaben setzt der Träger gemeinsam mit seinem Partner, der Katholischen Akademie Regensburg, in einem strukturierten Change-Prozess aus Personal- und Organisationsentwicklung um. Finanziell unterstützt werden die Personalmaßnahmen im Projekt mit einer Förderung von rund 717.000 Euro vom Bayerischen Staatsministerium für Pflege, Gesundheit und Prävention.

Die Leading Nurses sind die Planer und Netzwerkspieler im Gesamtprozess. Sie sind pflegefachlich verantwortlich für jeweils einen definierten Bewohnerkreis von etwa zehn Bewohnern.

– Barbara Blecha

Umfassende Qualifizierungsmaßnahmen

Um eine effektive und effiziente Aufgabenverteilung in der Pflege zu ermöglichen, ist die umfassende Qualifizierung von Pflegekräften ein zentraler Bestandteil dieses Prozesses. Die Leading Nurses übernehmen eine verantwortliche und verantwortungsvolle Leitungsfunktion, für die sie neben der fachlichen Qualifikation auch hohe soziale Kompetenzen, eine positive Haltung zu Eigenverantwortung und Veränderungsbereitschaft mitbringen. Als wichtige Anerkennung ist für die Leading Nurses, die nicht bereits Führungsverantwortung tragen, eine Höhergruppierung vorgesehen.

Von großer Bedeutung für die erfolgreiche Umsetzung der neuen Pflegeorganisation ist außerdem die Höherqualifizierung und Kompetenzerweiterung der Pflegehilfskräfte; denn sie werden zukünftig ebenfalls mehr Verantwortung im Rahmen ihres Qualifikationsniveaus übernehmen. Die Pflegehilfskräfte erreichen in Pflegebasiskursen das Qualifikationsniveau 2 – die Assistenzkräfte mit Qualifikationsniveau 3 bekommen ebenfalls Auffrischungskurse, um ihr Wissen auf den neuesten Stand zu bringen und ihre wichtige Rolle im Qualifikationsmix zu verstehen.

Die Aufgaben beginnen mit dem pflegerischen Erstgespräch bei Einzug der Bewohner, der pflegefachlichen Risikoeinschätzungen und Planungen, über Fallbesprechungen mit Angehörigen, Kommunikation mit Ärzten und Therapeuten und enden mit dem letzten Tag der Bewohner in der Einrichtung.

– Barbara Blecha

Widerstände überwinden

Die Qualifizierungen bewirken Ambitionen: Denn die  Leading Nurses haben das Ziel, wenn sie zurück in ihren Einrichtungen sind, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, ihre Fachlichkeit einzubringen sowie Vorbehaltsaufgaben auszuführen und zu delegieren. Doch gibt es – wie in den meisten Change-Prozessen – auch mögliche Widerstände. Starke Unsicherheiten über die eigene Rolle im neuen System gab es beispielsweise bei den Wohnbereichsleitungen, eine Position im mittleren Management der Einrichtungen. Diese Gruppe hatte die Befürchtung, durch die neue Rolle „überflüssig“ zu werden. Tatsächlich hat sich im Laufe der ersten beiden Projektjahre gezeigt, dass sich die Rolle der Wohnbereichsleitung stark verändert hat, jedoch nicht entbehrlich ist. Im Unterschied zu einer Leading Nurse, die die pflegefachliche Verantwortung übernimmt, ist die Wohnbereichsleitung für die organisatorischen Abläufe wie beispielsweise die Entwicklung der Mitarbeitenden und das Qualitätsmanagement verantwortlich. Sie tritt nun verstärkt als Coach für das Team auf, leitet an, stärkt und unterstützt. So hat sich auch die Bezeichnung dieser Rolle zu „Teamleitung Pflege“ geändert.

Durch die übernommene Verantwortung entwickeln sie ihre Kompetenzen deutlich fort. Sie schätzen die Risiken ihrer Bewohner umfänglich und ganzheitlich ein und planen Maßnahmen eigenverantwortlich.

– Barbara Blecha

Führungskräfte als Schlüsselfiguren

Eine Schlüsselrolle im Veränderungsprozess haben die Einrichtungs- und Pflegedienstleitungen. Sie sind dafür verantwortlich, alle Mitarbeitenden in die Veränderungen einzubeziehen und ihnen zu vermitteln, dass es „kein Zurück“ mehr gibt. Die Leading Nurses, der Qualifikationsmix, effiziente Prozesse und Strukturen sind der Weg in die Zukunft. Das Leitungsteam muss vermitteln, dass die verantwortliche Steuerung des Pflegeprozesses das Zusammenwirken mit Pflegehilfskräften erleichtert und für Qualität und Sicherheit in der Pflege sorgt. In den Einrichtungen mit starker Führung und Rückendeckung gelingt dieser Wandel gut.

Engmaschige Begleitung der Einrichtungen 

Die Einführung der neuen Rolle, der veränderten Arbeitsweisen und einer angepassten Kommunikationsstruktur wird vom Projektteam engmaschig begleitet. In zahlreichen Workshops wurden in den ersten beiden Projektjahren mit den Einrichtungs- und Pflegedienstleitungen Arbeitsweisen und Strukturen erarbeitet, die in den Einrichtungen erprobt und dann implementiert wurden. Die finalen Prozesse, Vorgaben und Rollenprofile werden in der Konzeption, dem sogenannten Musterhaus festgehalten. Die Leitungs- und Pflegekräfte vor Ort werden nach wie vor in Gruppen- oder Einzelcoachings begleitet. Hervorzuheben ist, dass die Mitarbeitenden dazu befähigt werden, auch künftig flexibel auf sich verändernde  
Rahmenbedingungen zu reagieren, selbst Wege und Lösungen zu finden und bestehende Prozesse kontinuierlich zu reflektieren und zu adaptieren. 

Durch die Umsetzung auf das Leading-Nurse-System hat sich in unserem Haus vieles entspannt. Die pflegefachliche Hauptverantwortung der Wohnbereichsleitung hat sich auf mehrere starke Köpfe verteilt.

– Barbara Blecha

Positive Ergebnisse

Dass die Caritas St. Heinrich und Kunigunde mit ihrem Weg richtig liegt, zeigen zahlreiche Rückmeldungen von den Pflegenden, Bewohnern und Angehörigen. Vor allem die Zuordnung von Leading Nurses zu Bewohnern begeistert beide Seiten. Angehörige haben mit diesen verlässliche Ansprechpersonen, die durch die dauerhafte und persönliche Begleitung einer Bewohnergruppe genauestens Bescheid wissen. Die Leading Nurses können sich intensiver mit „ihren“ Bewohnern beschäftigen. Auch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung durch die Evangelische Hochschule Nürnberg und positive Bewertungen von Prüfbehörden zeigen, dass die Zufriedenheit und die Pflegequalität mit der Einführung des Projektes gestiegen sind. In diesem letzten Projektjahr geht es nun darum, den Veränderungsprozess nachhaltig sicherzustellen und Handlungsempfehlungen für andere Träger zu erarbeiten.

Projektdaten

  • Träger:
    • Caritas gGmbH St. Heinrich und Kunigunde, Bamberg
    • 32 Dienste und Einrichtungen der Alten-, Behinderten-, Kinder- und Jugendhilfe
  • Mitarbeitende: 1.800
  • Projektdauer: 3 Jahre (2023 bis 2025)
  • Projektgröße: Umsetzung in 16 stationären Altenpflegeeinrichtungen mit 1.271 Plätzen
  • Finanzierung: Gefördert werden die Personalmaßnahmen mit rund 717.000 Euro durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention
  • Projektpartner:
    • Katholische Akademie Regensburg: Durchführung der Qualifizierungen, Begleitung der Organisationsentwicklung
    • Evangelische Hochschule Nürnberg: Evaluation des Projektes mit dem Ziel, Handlungsempfehlungen für die Fortsetzung des Projektes und die Übertragbarkeit auf andere Träger zu erarbeiten
  • Zahlen (Stand Mai 2025)
    • 33 Prozent der Pflegefachkräfte sind zu Leading Nurses qualifiziert
    • 29 Prozent der Pflegehilfskräfte haben einen Pflegebasiskurs absolviertpositive Entwicklung der Mitarbeiter-Fluktuation (von 2023 bis 2025 um voraussichtlich rund 8 Prozentpunkte)
  • Auszeichnungen: Social Impact Preis 2024 des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales